Zur Wahrheit


Die Wahrheit, denke ich, kennt nur der Betroffene, will er sie mitteilen, wird er automatisch zum Lügner. Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein, also sind immer nur Fälschungen und Verfälschungen mitgeteilt worden. Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts. Und eine Zeit, eine Lebens-, eine Existenzperiode aufzuschreiben, gleich, wie weit sie zurückliegt, und gleich, wie lang oder kurz sie gewesen ist, ist eine Ansammlung von Hunderten und von Tausenden und von Millionen von Fälschungen und Verfälschungen, die dem Beschreibenden und Schreibenden alle als Wahrheiten und nichts als Wahrheiten vertraut sind. Das Gedächtnis hält sich genau an die Vorkommnisse und hält sich an die genaue Chronologie, aber was herauskommt, ist etwas ganz anderes, als es tatsächlich gewesen ist. Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar. Wir beschreiben einen Gegenstand und glauben, wir haben ihn wahrheitsgemäß und wahrheitsgetreu beschrieben, und müssen feststellen, es ist nicht die Wahrheit. Wir machen einen Sachverhalt deutlich, und es ist nicht und niemals der Sachverhalt, den wir deutlich gemacht haben wollen, es ist immer ein anderer.

Wir müssen sagen, wir haben nie etwas mitgeteilt, das die Wahrheit gewesen wäre, aber den Versuch, die Wahrheit mitzuteilen, haben wir lebenslänglich nicht aufgegeben. Wir wollen die Wahrheit sagen, aber wir sagen nicht die Wahrheit. Wir beschreiben etwas wahrheitsgetreu, aber das Beschriebene ist etwas anderes als die Wahrheit. Wir müssten die Existenz als den Sachverhalt, den wir beschreiben wollen, sehen, aber wir sehen, so sehr wir uns bemühen, durch das von uns Beschriebene niemals den Sachverhalt. In dieser Erkenntnis hätten wir längst aufgeben müssen. Da die Wahrheit mitzuteilen und also zu zeigen, nicht möglich ist, haben wir uns damit zufrieden gestellt, die Wahrheit zu schreiben und beschreiben zu wollen, wie die Wahrheit zu sagen, auch wenn wir wissen, daß die Wahrheit niemals gesagt werden kann. Die Wahrheit, die wir kennen, ist logisch die Lüge, die, indem wir um sie nicht herumkommen, die Wahrheit ist. Was hier beschrieben ist, ist die Wahrheit und ist doch nicht Wahrheit, weil es nicht die Wahrheit sein kann. Wir haben in unserer ganzen Leseexistenz noch niemals eine Wahrheit gelesen, auch wenn wir immer wieder Tatsachen gelesen haben. Immer wieder nichts anderes als die Lüge als Wahrheit, die Wahrheit als Lüge et cetera.

Es kommt darauf an, ob wir lügen wollen oder die Wahrheit sagen und schreiben, auch wenn es niemals die Wahrheit sein kann, niemals die Wahrheit ist. (...) Die Vernunft hat es mir schon lange verboten, die Wahrheit zu sagen und zu schreiben, weil damit doch nur eine Lüge gesagt und geschrieben ist, aber das Schreiben ist mir die Lebensnotwendigkeit, darum, aus diesem Grunde schreibe ich, auch wenn alles, was ich schreibe, doch nichts als Lüge ist, die sich als Wahrheit durch mich transportiert.

Was hier beschrieben ist, ist die Wahrheit, und sie ist es nicht aus dem einfachen Grund, weil die Wahrheit uns nur ein frommer Wunsch ist. Die Frage, warum jetzt die Lehrzeit und nicht später, zu einem Zeitpunkt, in welchem möglicherweise.....


(Thomas Bernhard, Der Keller, 153ff)